Pauline Luisa Krätzig
Freie Journalistin

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meinTirol Magazin 03/20

Spuren



Berge sind Brücken
Mööööööh, Määääääh, Löck, Löck!



Seit mehr als 600 Jahren ziehen Menschen und Schaf zwischen den Almen von Nord-und Südtirol hin und her. 3000-Meter-Gipfel, steile Joche und menschengemachte Grenzen sind keine Hindernisse für die Tradition der
Transhumanz.

[...] Die Schafe fahren über die Berge, so sagt man hier, und das Verb muss ein zynischer Witz gewesen sein von einem, der bei der Transhumanz mit den sehr jungen, altersschwachen und elendskranken Schafen hinterherhinken musste. Man ist nur so schnell wie das schwächste Glied, und das trägt heute einen roten Punkt im weiІen Nacken und ist nicht alt oder krank, sondern einfach nur „stinkfaul“. Die Durchschnittsgeschwindigkeit der Nachhut betrКgt 2,1 Stundenkilometer – weniger als einen Meter pro Sekunde. Auf der ersten Teilstrecke, die von der Almhütte steil abwärts zu einer Brücke über den Hintereisbach führt, geht es noch langsamer voran.
Die schmale, wackelige Hängebrücke ist den Schafen nicht geheuer. „Löck, Löck, Löckk“ rufen die Treiber. „Ja, leck mich am Arsch“, sagt Hugo, wenn irgendein Dilettant den Lockruf falsch ausspricht oder überliefert. Mit Lecken hat das rein gar nichts zu tun. Und dann grinst Hugo und Gold blitzt in seinem Mundwinkel auf. Die Schafe lassen sich heute eh lieber bitten: „Hoi, Hoi, Hoi!“

Auf den Heiligenbildchen vom guten Hirten sieht das immer so mühelos aus: Im goldenen Glorienschein trägt Jesus barfuß ein blütenweises Lamm, umringt von seinen ergebenen Schäfchen. „Die meisten Leute denken, die Schafe machen das alles von alleine“, sagt Hugo. Sein blauer Schurz ist nach der ausgiebigen morgendlichen Geburtshilfe voll mit Blut und ScheiІe. Wären die Schafe gläubig, dann mit Sicherheit katholisch, denn Psalm 23, „Der Herr ist mein Hirte“, bestimmt die Tagesordnung: Die Schafe haben nicht einmal Namen, aber es mangelt ihnen an nichts. Auf Südtirolerisch: „Erst kimmt’s Schof, nachad d’Frau.“. [...]



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Pauline Luisa Krätzig
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