Pauline Luisa Krätzig
Freie Journalistin

Contact


NZZaS Magazin / Titelstory 05/20

Eine Hommage an Restaurants, Cafès und Bars



Der letzte Gast



„Du Glückliche!“ heißt es immer. Ich Glückliche habe einen Mann, der nicht nur Grafik Designer, sondern auch noch Koch ist. Der außer Pixel zu schieben (so nennt er es), regelmäßig in diversen Sterneläden pittoreske Speisen kreiert. „Dann musst du ja nie kochen!“ heißt es, garniert mit einem neiderfüllten Blick. Und anstatt sie alle in dem Irrglauben zu lassen, mein Leben sei eine Haute Cuisine-Version des Tischlein-deck-dich, muss – nein – will ich sie enttäuschen: bestehe vehement und ein bisschen beleidigt darauf, dass ich auch sehr gut koche und es ihm schmeckt. Erkäre, dass mein Mann nach zwölf Stunden Kochkunst zuhause lieber abwechselnd von einer Breze und einem Stück Gouda beißt. Erzähle, wie oft ich Einschlagpapiere von Cheeseburgern unter dem Beifahrersitz hervorziehe und ihn Makkaroni mit Butter aus dem Topf gabeln sehe. Normalerweise stünde mein Mann jetzt im 2-Sterne-Restaurant „SoSein“ in Heroldsberg bei Nürnberg und fusionierte „Spinatblatt, frittierte Pilze und Cassis“ oder „Flusskrebs-Shoju und Shiso“. Aber im Moment ist nichts normal. Und ich kann nicht mehr. Ich kann nichts mehr essen. Nicht einmal Dessert.



Seit sieben Wochen bin ich Daniels einziger Gast. Der letzte Gast. Nur ich bekomme nun all jene bis zu seiner Zufriedenheit, sprich bis zur Perfektion durchexerzierten Gerichte serviert. Nur ich kann sie gerade kosten und wertschätzen. Mehrmals, immer wieder und dann noch mal: Buchteln, Pasta, Pizza, Brot; Dinkel-, Roggen-, Weizenmehl; Typ 1050, 997, 00, 550. Ganze Blumenkohle in 1001 Gewürzmarinaden. 1,5 Liter grüne Soße. Sesam-Karamelle, ein Thermomix voll Erdbeer-Buttermilch-Sorbet, zwölf zartbittersüße Schokoküchlein, außen karamellisiert, innen matschig-saftig. Am Kühlschrank klebt ein Post-it. Darauf steht fünfmal untereinander das Wort Kürbis, daneben jeweils Mengenangaben. Ein Rezept für 12. Meine Mastkur. Noch etwas Zitronenpfeffer?



Mein Mann bäckt und gart und schmort für mich, was sonst zehn bis 25 Personen verspeisen. Und ich esse und esse artig auf, denn die „Teller leer, Wetter gut“-Politik meiner Großeltern und mein drei-Geschwister-bedingter Fressneid wiegen schwer, liegen mit jedem weiteren Tag schwerer im Magen. Tagsüber sitze ich im Schlafzimmer am Sekretär, schreibe, versuche zu schreiben, schlürfe meinen Instant-Kaffee, lausche ums Eck, was da brutzelt, wittere, was da räuchert, lauere, wie weit mein Magen heute gehen muss. Abends sitze ich am Esstisch, bereit, mein Abendmahl zu empfangen. Ich beobachte meinen Mann, wie er liebevoll seinen Kombucha-Pilz tätschelt. Wie er geduldig seinen Sauerteig füttert. Und er beobachtet mich, verstohlen, erwartungsvoll, bis ich ihm meinen Hochgenuss vorschmatze. Es schmeckt so gut. Aber ich bin so satt. Darf ich mich überhaupt beschweren? Ich komme auf die Frage zurück – nach einem Verdauungsschläfchen.



Den Versuch, die schmale Küchenzeile auch einmal zu belegen, habe ich längst aufgegeben. Während ich von Tag zu Tag einkaufe und koche, den Kühlschrank für gewöhnlich nur mit Tomatenmark, einer halben Zitrone und Facial-Erfrischung-Spray beanspruche, hat mein Mann vorgestern bereits geplant, was es heute, übermorgen, nächsten Mittwoch und Sonntagabend zu essen geben wird. Auf dem Herd simmert seit zwei Tagen ein Zwiebel-Sud. Im Ofen trocknen Karottenraspeln bei 60 Grad. Essenzen und Soßen sind angesetzt und abgefüllt. Große Drahtbügelgläser belagern jedes frei geräumte Regalbrett: Fichtensprossen-Sirup, Forellen-Koji und... keine Ahnung, was das ist. Neulich Nacht um vier ein Knall: Die Birnen-Miso im Weckglas machte sich Luft. Mein Mann freut sich: Sie lebt! Ich lebe in der ständigen Angst, dass mir eines dieser zischenden Gläser ins Gesicht explodiert.

Er leidet still, doch sichtbar. Manchmal hockt er vor dem Ofenfenster, wie ein Kind vor dem Lieblingscartoon, und verfolgt ein unausgegorenes Brioche-Rezept. Wie eine lebenserhaltende Maßnahme wischt er mehrmals täglich durch seinen Instagram-Feed von einem Fermentierungs-Clip zum nächsten minutiösen Zwischengang. Statt zu schlafen starrt er an die Decke, als stünde dort oben, wie die Gnocchi noch fluffiger werden. Wir sehnen beide den Tag herbei, wenn die Restaurants wieder öffnen. Dann bin ich nicht mehr sein einziger Gast. Dann faste ich.



Copyright © 2020
Pauline Luisa Krätzig
All rights reserved.