Ein großer Wurf
Reportage über eine der ältesten Sportart im Alpenraum
Es ist Ende Juli in Alpbach, später Nachmittag, das Wetter durchwachsen. Über dem Tal türmen sich dunkle Wolken auf, Wasserteilchen wirbeln darin umher, reiben sich, stoßen gegeneinander, zerstäuben wieder, laden sich positiv, negativ, elektrisch auf, ein gewaltiger Kurzschluss braut sich zusammen. Am Ende des Tals wirbeln Menschen in einem großen Zelt umher, reiben sich, stoßen gegeneinander, entladen ihre Energie, heizen die Atmosphäre auf, entfachen ein rauschendes Grölen, Zurufe durchbrechen die dumpfe Hitze: „Los, Maxi!“ – „Knie anzieh’n!“ – „Rechte Hand, außen greifen, pass auf an der Seite!“ – „Den anderen Fuß!“ – „Dreh auf!“ – „Geh rein, XXX!“... Aber nein, hier eskaliert keine Volksfest-Schlägerei. Hier wird gerade tosend eine Tradition zelebriert: das Ranggeln.
GUMMIKÖRPER & GEDULD
Viele Jahrhunderte vor Christus hatte sich der Ringkampf von Griechenland aus zuerst in Italien, dann in Westeuropa verbreitet. Über die Jahrhunderte nach Christus reifte der antike Wettkampf im Alpenraum zu zwei Varianten: dem Schwingen in der Schweiz und dem Ranggeln in Salzburg, Bayern, Südtirol und Tirol. Und hier sind wir nun: Bei der Tiroler Landesmeisterschaft, auf der soeben ein junger bulliger Ranggler mit zerzausten Locken seinen perplexen Gegner am Kragen zentrifugal in die Knie schleudert.
Alle vier Vereine Tirols sind an diesem Tag am Start, 45 Ranggler zwischen fünf und 50 Jahren aus dem Alpbachtal, Zillertal, Brixental, Iseltal. Zuerst treten die Jüngsten an, immer zwei Paare auf dem acht mal neun Meter großen Mattenfeld. „Tirola Kola“ getankt, Hosenstall zu, Anpfiff, eiliges Abklatschen, Angriff. Den Gegner zu packen kriegen, aus dem Gleichgewicht bringen und innert sechs Minuten mit beiden Schulterblättern aufs Kreuz legen. Man hört leises Stöhnen, Klatschen und Quietschen schwitziger Hände und Füße. Man sieht kleine Gummikörper unter Hochspannung, die sich bäuchlings am Hosenbund zerren, mit rosaroten Köpfen ineinander stemmen. Man gefühlsschwankt zwischen Rührung und Respekt. Fünf Minuten haben die Schüler- und Jugendklassen Zeit, um den Gegner in den Griff und auf die Matte zu bekommen. Wer das für kurz hält, kann ja solang in den Unterarmstütz gehen – eine von sehr vielen knackigen Übungen, mit denen sich die Ranggler auf den Kampf vorbereiten.
Die Mannschaft der „Union Matrei“ trainiert im winzigen Turnraum einer Volksschule. Seit jeher schickt die „Rangglerhochburg“ in Hohen Tauern berüchtigte Gegner in den Ring. Seit 28 Jahren kümmert Vereins-Obmann Franz Holzer sich um den Nachschub. 15 Buben von fünf bis zwölf auf einem Haufen sind keine Spazierfahrt. Aber Franz ist Busfahrer und hat schon chaotischere Truppen ans Ziel gebracht. Davor war er Bäcker, 35 Jahre lang, was seine Mordsgeduld erklären dürfte. Ohne sie geht ein Teig nicht auf, und erst recht keine Persönlichkeit. Die Eltern haben vollstes Vertrauen in den Mann, der hyperaktive, hitzige Kinder in selbstbewusste, ausgeglichene Charakterköpfe mit beachtlicher Nacken- und Rumpfmuskulatur verwandelt. Es mag widersprüchlich klingen, aber Rangeln, mit einem und zwei G, ist Eskalations-Prophylaxe. Kinder lernen mit Niederlagen umzugehen ohne auszurasten. Beim Ranggeln lernt man das Scheitern besonders schnell, denn die Kämpfe sind kurz, man fällt, steht wieder auf, packt neu an, fällt erneut, steht wieder auf... Frust und Selbstmitleid sind gleich vergessen, tränenverzerrte Gesichter klaren im Nu wieder auf. Sofern eine feinfühlige Respektperson wie Franz die Kinder emotional auffängt, anleitet und einschreitet, wenn jemand ausgelacht wird oder zu kurz kommt. [...]
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Pauline Luisa Krätzig
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